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Chess

Schwarz und Weiß?

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Venue
Bühne Baden
by
Tim Rice (Buch)
Benny Andersson und Björn Ulvaeus (Musik)
Tim Rice und Björn Ulvaeus (Liedtexte)
Direction
Andreas Gergen
World premiere
1986

Eine fulminante „Chess“-Inszenierung mit viel Service fürs Publikum

Auch fast 40 Jahre nach seiner Uraufführung im Londoner West End besteht vor jeder Inszenierung von „Chess“ nach wie vor die Unsicherheit, an welcher Stelle die Songs verortet sein werden, ob überhaupt sämtliche Songs zur Aufführung kommen und welche Figur sie interpretieren wird. Das komplexe und vielschichtige Buch von Autor Tim Rice – nach „Chess“ hat er zwar erfolgreicher, nie aber intelligenter geschrieben – lädt Dramaturgen und Regisseure geradezu zu Änderungen ein.

Regisseur Andreas Gergen lässt das Stück musikalisch weitestgehend unangetastet (so wurde etwa die „Merchandisers“-Nummer gekürzt), beteiligt sich jedoch mit großer Lust an dem Ideenwettbewerb um die Geschichte. So fügt er dem Werk die Geschichte über Florences Herkunft hinzu, indem er „The Story of Chess“ im Ungarischen Volksaufstand von 1956 ansiedelt. Der im Bühnenbild verwandte Slogan „Ruszkik haza“ („Russen, geht nach Hause“) zeugt dabei von der aktuellen Relevanz des Stückes. In dieser Szene, die in den Trümmern von Budapest spielt, übernimmt nun der Vater von Florence die Rolle des Schiedsrichters und führt seine kleine Tochter ins Schachspiel ein, bevor er in den Wirren des Aufstands für immer verschwindet. Damit wird plausibel erklärt, warum es Florence überhaupt in die Welt des Schachs verschlagen hat. In den späteren Szenen, die am Schachbrett spielen, wird das kleine Mädchen von einst als ihr Alter Ego das Spiel verfolgen, womit das Trauma des frühen Verlustes des Vaters durch politische Umstände ständig auf der Bühne präsent ist.

Gergen, so kennt man ihn, brennt ein fulminantes Feuerwerk von Regieideen ab, was das hochschwellige Stück extrem kurzweilig und unterhaltsam gestaltet. Manchmal schießt er dabei aber auch übers Ziel hinaus: Lack und Leder mögen in Bangkok Sinn machen, nicht aber in Meran. Extrem beeindruckend setzt er den Song „Pity the Child“ in Szene, der mit den ansonsten nur wenig imposanten Videoprojektionen das Fegefeuer auf die Bühne holt, durch das Freddie als Kind gegangen ist. Großer Szenenapplaus für diese Nummer, die auch äußerst blutige Selbstverletzungen zeigt.

Der Service für das Publikum findet neben einer kleinen ABBA-Reminiszenz, womit auf die musikalische Herkunft des Stückes verwiesen wird, seinen Höhepunkt sicherlich bei dem Song „One Night in Bangkok“, der durch das zeilengenaue Einblenden des Songtextes als „Sing-Along“-Nummer inszeniert ist. Für visuelle Rasanz sorgt das Bühnenbild von Momme Hinrichs, das mit Drehbühne und sich Tetris-artig zusammenfügenden Bühnenelementen für einen permanenten Fluss sorgt. Ebenso rasant und publikumswirksam präsentiert sich Till Naus mehr als dynamische Choreografie, die hinsichtlich der zu erzählenden Geschichte aber manchmal ein seltsames Eigenleben entwickelt. Das Kostümdesign von Conny Lüders hebt das altbekannte Schwarz-Weiß-Konzept für die verfeindeten Parteien auf und zeigt sämtliche Hauptfiguren, mit Ausnahme des in Weiß auftretenden Schiedsrichters, in elegantem Schwarz. Eine schöne Idee. Dies gilt leider nicht für die Kopfbedeckungen des Ballett-Ensembles in den Schachszenen, die unfreiwillig komisch wirken.

Uneingeschränkte Freude hingegen bereitet die musikalische Qualität dieser Produktion: Unter der Leitung von Victor Petrov sind die Songs von Benny Andersson und Björn Ulvaeus in den allerbesten Händen. Bereits zum siebten Mal übernimmt Femke Soetenga in einer „Chess“-Produktion die Rolle der Florence. Sehr gerne dürfen noch weitere hinzukommen, denn auch diesmal überzeugt sie mit nuanciertem Spiel und großer Stimme. Drew Sarich fegt als Freddie wie eine Naturgewalt über die Bühne: Dauerkaugummikauend und -koksend gibt er mit großem physischem Einsatz und kräftiger Rockstimme bis hoch ins Falsett den respektlosen Rüpel. Mark Seibert stellt sehr schön Anatolys fortwährende Zermürbung heraus und überzeugt bei „Anthem“ mit fester Stimme und langem Atem. Ann Mandrella gibt ausdrucksstark Svetlana. Große Spielfreude zeigt Reinwald Kranner als Schiedsrichter, der mit empathielosem Interesse das Spiel überwacht. Dem zukünftigen Intendanten der Bühne Baden ist mit dieser Inszenierung ein zugkräftiges Ausrufezeichen gelungen.


Musikalische Leitung: Victor Petrov • Choreografie: Till Nau • Bühne: Momme Hinrichs • Kostüme: Conny Lüders • Licht: Stephanie Affleck • Sounddesign: Florian Carau • Mit: Drew Sarich (Frederick Trumper), Femke Soetenga (Florence Vassy), Mark Seibert (Anatoly Sergievsky), Boris Pfeifer (Walter de Courcey), Georgij Makazaria (Alexander Molokov), Reinwald Kranner (Der Schiedsrichter), Ann Mandrella (Svetlana Sergievskaya), Beppo Binder (Der Bürgermeister von Merano), Anetta Szabó, Marjeta Urch, Michael Konicek (Pop-Chor) • Orchester, Chor und Ballett der Bühne Baden

Aufmacherfoto: Christian Husar

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