
Die deutschsprachige Erstaufführung von „Matilda“ begeistert
Nach der erfolgreichen österreichischen Erstaufführung des aktuellen Welthits „Wicked“ holt die Bühne Baden nun den nächsten Musicalschatz aus der Anglosphäre als deutschsprachiges Debüt auf ihre Bühne. Mit einer bunten Inszenierung der Geschichte um das besondere Mädchen Matilda verzaubert das Ensemble sein Publikum in allen Altersstufen.
„Die Verpackung ist wichtiger als der Inhalt“, so lautet das Motto von Matildas Eltern, die so gar nicht sind wie ihre intelligente Tochter. Während sich Mama nur um ihr Äußeres kümmert und Papa krumme Dinger bei seinem Autohandel dreht, liest die fünfjährige Matilda lieber ganze Romane und flüchtet mithilfe ihrer Vorstellungskraft vor der grausamen Realität ihrer lieblosen Familie. Als dann auch noch die bösartige Direktorin Knüppelkuh Matilda und ihre Klassenkameraden tyrannisiert, lehnt sich das junge Mädchen mithilfe ihrer liebevollen Lehrerin Fräulein Honig auf.
Stephan Prattes’ clevere Bühne bildet mit ausziehbaren Schließfächern und Buchstaben die Spielorte. Matildas Geschichte über ein Zirkusartisten-Paar, die sie der gespannten Bibliothekarin (Tertia Botha) Stück für Stück erzählt, erscheint auf einem Balkon über ihr, bevor die Figuren zunehmend mit der Realität verschmelzen. Aleksandra Kicas einfallsreicher Modestil spiegelt sich hier in Form von Schuluniform-Korsagen wider. Aus der Choreografie von Francesc Abós überzeugt vor allem das „Schullied“, bei dem die älteren Schüler mit ihren Körpern das Alphabet bilden.
Im Dirigat von Christian Frank am Pult des Orchesters der Bühne Baden gibt es musikalisch einige Gänsehaut-Momente, leider geht die solide Übersetzung von Sabine Ruflair im Gesamtklang aber etwas unter. Einige Figuren hätten in ihrer karikativen Beschaffenheit noch überzeichneter sein dürfen, in den Dialogen fehlt es etwas an Wumms und Tempo.
Andreas Lichtenberger singt Direktorin Agathe Knüppelkuh, Matildas Antagonistin, souverän und spielt sie genau richtig fies-komisch, mit gutem Gespür fürs Timing. Damit glänzt auch Anna Rosa Döllers Fräulein Honig, die sich am Ende als Tochter des Zirkuspaares aus Matildas Geschichte herausstellt, sowohl gesanglich als auch spielerisch. Ann Mandrellas Frau Wurmwald fehlt es leider an Spannung, ihre Tanznummer „Laut“ kann energetisch nicht überzeugen, wenn auch Timotheus Hollwegs Artistik als Rudolpho begeistert. Boris Pfeiffer gewinnt als Herr Wurmwald mit seiner ausfallenden Exzentrik das Publikum spätestens dann für sich, als er dieses nach der Pause mit Livekamera hinter die Bühne nimmt, vorbei an der Inspizienz, welche an diesem Abend über 670 Lichtcues bedient.
Als Kinderdarsteller stehen fünf junge Talente auf der Bühne. Angeführt von einer fabelhaften Liv Perman in der Titelrolle überwinden sie anfängliche Hemmungen schnell – viele von ihnen spielen an diesem Abend zum allerersten Mal vor Publikum. Sehr rührend wirkt da der Song „Bald bin ich groß“, in dem die Kinder von ihrer Zukunft träumen und mit ihren erwachsenen Alter Egos tanzen, welche wiederum von den aufstrebenden Darstellern des Young Artists Ensembles verkörpert werden. Am Ende siegen die mutigen Schüler über Direktorin Knüppelkuh in der großartig dargebotenen Nummer „Der Aufstand“, angeführt von einem talentierten Benjamin Ruzek als Bruce. Das Publikum belohnt sie mit tosenden Ovationen.
Zum Glück ist an diesem Abend der Inhalt mindestens genauso wichtig wie die Verpackung: „Nur wenn wir einen Aufstand wagen, ändert sich was.“ Die junge Matilda zeigt, wie man mit Intelligenz, Mut und Fantasie gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt ankämpfen kann. Ähnlichen Mut beweist der künstlerische Leiter Andreas Gergen, der sich im Alleingang sein kleines Musicalparadies in der Wiener Vorstadt Baden schustert und dabei als Regisseur, Operndirektor und Dramaturg zugleich fungiert – eine ambitionierte Mission. „Die Essenz des Theaters ist das Geschichtenerzählen“, betont er bei der Premierenansprache. Und diese Geschichte ist definitiv erzählenswert.
Musikalische Leitung: Christian Frank • Regie: Andreas Gergen • Choreografie: Francesc Abós • Bühne: Stephan Prattes • Kostüme: Aleksandra Kica • Maskendesign: Edu von Gomes • Licht: Stephanie Affleck • Sounddesign: Florian Carau • Choreinstudierung: Victor Petrov • Mit: Liv Perman (Matilda Wurmwald), Ann Mandrella (Frau Wurmwald), Boris Pfeifer (Herr Wurmwald), Anna Rosa Döller (Fräulein Honig), Andreas Lichtenberger (Agathe Knüppelkuh), Tertia Botha (Frau Schilf), Konstantin Pichler (Michael Wurmwald), Timotheus Hollweg (Arzt/Rudolpho), Liviana Degen (Akrobatin/Hortensia), Beppo Binder (Zlatko), Branimir Agovi (Entfesselungskünstler), Benjamin Ruzek (Bruce), Victoria Schnut (Amanda), Lion Tatzber-Poms (Nils), Tamaki Uchida (Lavendel), Jens Emmert (Tommy), Jan-Eike Majert (Erich), Mariella Hofbauer (Alice) • Orchester, Chor, Tanzensemble und Young Artists der Bühne Baden
Aufmacherfoto: Lalo Jodlbauer




