
„Der Mann von La Mancha“ als minimalistisches Kammerspiel
Es ist ein Wagnis, was Carsten Kirchmeier da auf die Bühne des Musiktheaters im Revier bringt. Die Figur des Don Quijote, des Ritters von der traurigen Gestalt, kennt wirklich jeder von klein auf. Und wer im Vorfeld der Premiere des „Mann von La Mancha“ im Internet mal ein wenig googelt, was ihn bei diesem Musical erwarten könnte, sieht von anderen Produktionen ausschließlich bunte Bilder mit prächtigen Kostümen und jeder Menge Folklore, stößt vielleicht auf entsprechende Videoclips mit jeder Menge Tanz oder hat noch die opulente, aber gefloppte Verfilmung von 1972 im Kopf. Wer das erwartet, wird enttäuscht, denn von all dem bietet Kirchmeier in Gelsenkirchen nichts. Seine Fassung ist ein minimalistisches Kammerspiel mit Gesang und Orchester, es spielt die Neue Philharmonie Westfalen.
Bekanntlich ist das Musical ein Stück im Stück. Die Rahmenhandlung nutzt die Tatsache, dass Dichter und Schauspieler Cervantes (1547–1616) während der Spanischen Inquisition einmal im Knast landete. Dort nehmen ihm die Mithäftlinge alles Hab und Gut ab, auch das Manuskript für sein Opus magnum. Um zu beweisen, dass „Don Quijote“ sein geistiges Eigentum ist, spielt er es mit ihnen durch – in Gelsenkirchen ist der Anlass dagegen, dass er sich auf diese Weise des Vorwurfs erwehren will, ein schlechter Dichter zu ein. Die übrigen Gefangenen, normalerweise allesamt in zeitgemäßen Kostümen des ausgehenden 16. Jahrhunderts, schlüpfen dabei in die verschiedenen Rollen.
Kirchmeier nun versetzt das Stück in die Gegenwart, in einen nüchternen, heruntergekommenen Zellentrakt. Alle Darsteller tragen identische Overalls, einteilige Häftlingskleidung, die Wächter treten als schwarz uniformierte Schlägertruppe auf. Schauwerte bei den Kostümen fallen also schon einmal weg. Gegenwartsbezüge findet man dennoch nicht, kann sie allenfalls hineininterpretieren in das echte Cervantes-Zitat „Tatsachen sind die Feinde der Wahrheit“, bei dem ein Raunen durch den Saal geht, denn es könnte auch von Putin oder Trump stammen. Einen zu erwartenden Verweis auf den Kampf gegen „Windmühlen der Schande“ gibt es dagegen nicht.
Cervantes verwandelt sich auch nicht auf der Bühne durch Make-up, Perücke und angeklebtes Bärtchen in den alternden Edelmann. Der 34-jährige österreich-slowenische Bass Philipp Kranjc, für den das Musiktheater das Stück eigens inszeniert hat, bleibt so jung und ungeschminkt, wie er tatsächlich ist, setzt sich einen Kochtopf als Helm auf, nimmt einen verbeulten Mülleimerdeckel als Schild und einen Besen als Lanze. Eine lange weiße Unterhose ersetzt die Stola des Padre, der vermutlich lustigste Einfall der Inszenierung. Getanzt wird ebenfalls nicht. Umso mehr sind also die schauspielerischen Leistungen und der Gesang gefragt.
Hier punktet die Inszenierung auf voller Linie. Kranjcs umwerfender Bass ist eine Wohltat. Sein Cervantes lässt seinen Don Quijote nie zur Witzfigur verkommen, da er ihn als Seelenverwandten betrachtet. Kranjc bekommt den ersten Szenenapplaus, noch bevor er die Bühne betritt, aufgrund der Ansage, dass er trotz einer schweren Rippenverletzung auftritt, die er sich zehn Tage vor der Premiere bei den Proben zugezogen hat. Die Kampfszenen muss er daher mit angezogener Handbremse spielen.
Für ein wenig Humor ist Benjamin Lee als Cervantes’ Assistent und als Knappe Sancho Panza verantwortlich, aber auch er ist keine komische, sondern eher eine sympathische Figur. Der „Gouverneur“, so der Name für den Häftling, der im Verlies das Sagen hat, wird mit Anke Sieloff zur Abwechslung nicht männlich, sondern mit einer zwar kleinen, aber sehr starken Frau besetzt, sodass Elisabeth Hübert als Aldonza/Dulcinea nicht die einzige größere weibliche Figur bleibt. Kurze Warnung: Das knapp zweistündige Werk wird aufgrund der ununterbrochenen Erzählweise grundsätzlich am Stück durchgespielt – selbst in der Heimat des Schalke 04 gibt es keine Halbzeitpause.
Musikalische Leitung: Mateo Peñaloza Cecconi • Choreografie: Tenald Zace • Bühne: Katrin Hieronimus • Kostüme: Katharina Beth • Licht: Thomas Ratzinger • Ton: Jan Wittkowski • Mit: Philipp Kranjc (Miguel de Cervantes/Alonso Quijana alias „Don Quijote“), Benjamin Lee (Assistent/Sancho), Elisabeth Hübert (Aldonza), Adam Temple-Smith (Padre/Maultiertreiber), Anke Sieloff (Gouverneur/Wirtin, Haushälterin), Sebastian Seitz (Herzog/Dr. Carrasco), Nikko Forteza (Barbier/Maultiertreiber), Marie Ploner (Antonia), Urban Malmberg (Wirt) u.a. • Neue Philharmonie Westfalen
Aufmacherfoto: Pedro Malinowski




