
„Saturday Night Fever“ ist nicht unbedingt das ideale Stück für die Wilhelmsburg
Bald hat Tony Manero auf jeder deutschen Burg, jedem Felsen und jeder Seebühne getanzt. Warum nur setzen sämtliche Freilufttheater von Tecklenburg über Jagsthausen bis Mörbisch ausgerechnet das Disco-Musical „Saturday Night Fever“ auf den Spielplan? Nach dem Kultfilm von 1977 denkt man bei der Handlung um den tanzbesessenen Farbenverkäufer an New Yorker Vorortstraßen und enge, nur von Glitzerlämpchen erhellte Clubs. Stattdessen treibt sich Tony vor Schlossmauern oder Kirchtürmen herum und tanzt seine ersten Disco-Schritte noch bei Tageslicht – so auch auf der Wilhelmsburg, auf deren riesiger Freiluftbühne das Ulmer Theater sämtliche Schauplätze der Handlung einfach mal nebeneinander aufbauen kann. Sogar die Brücke, von der Tonys Freund Bobby C. später zu Tode stürzt, hat Ausstatterin Petra Mollérus zwischen den zwei fünfstöckigen, türkisfarbenen Türmen gespannt, die sich rechts und links von einer riesigen Tanzfläche erheben. Die nötige Disco-Beleuchtung samt knallbunt erhellten Burgfenstern entfaltet nach Einbruch der Dunkelheit doch noch ihre Wirkung.
Regisseur Benjamin Künzel nimmt die Sozialkritik des Buchs nicht allzu ernst. Anfangs begleitet eine anonyme, zuschauende Menschenmenge das Alltagsgeschehen um Tony, reagiert auf Dialoge oder Ereignisse. Mit der ersten Szene im „Odyssey 2001“ werden sie dann zu Discotänzern und treten später kaum mehr als Großstadtgesellschaft in Erscheinung. Zwei Solisten (Raphael Dörr und Anne Simmering) sorgen mit vier weiteren Discosängern für die fetzige Tanzmusik im Club, alle haben rote Haare und die anfangs aufregenden Glitzerkostüme erinnern mit der Zeit doch etwas an Eieruhren.
Die frauenfeindlichen Anmerkungen der vier Freunde wurden größtenteils entschärft, Tonys Probleme zuhause sind einfach die aller jungen Menschen. Seine Familie gerät arg klischeehaft, selbst die Glaubenskrise seines Priester-Bruders Frank Jun. bleibt so beiläufig wie dessen Kommen und Gehen. Der Druck auf Tony, sein Leiden an den Lebensumständen und die Idee, dass es noch etwas Anderes, Besseres geben könnte, werden nie so recht evident. Erst als Tony-Darsteller Sascha Luder, der als Tänzer nicht ganz die Eleganz und Schnelligkeit eines Disco-Königs entwickelt, allein auf weiter Bühne „Immortality“ singt, erahnt man die Ziellosigkeit und innere Wut der Figur.
Die meisten Rollen sind aus dem Ulmer Opern- und Schauspielensemble besetzt, die große Gruppe rund um die erweiterte Tanztheaterkompanie bewegt sich synchron und präzis. Die Choreografien von Gaëtan Chailly und Sascha Luder bestechen nicht unbedingt durch Originalität, etwa wenn das Schwenken von Single-Schallplatten eine gewisse 80er-Nostalgie zu suggerieren versucht. Beim abschließenden Disco-Wettbewerb tanzt das Paar aus Puerto Rico (Magnum Philip und Alba Pérez González) tatsächlich exquisit, obwohl Stephanie alias Maria Rosendorfsky für einen Opernsopran schon arg tolle Beine hat, die sie im Duo mit Sascha Luder sinnlich und elegant einsetzt. Beide sind dennoch bessere Sänger als Tänzer. Sowohl bei Tonys abservierter Freundin Anette (Giulia Valentina Jahn) als beim nach ständig Hilfe suchenden Bobby C (Henning Mittwollen) hätte man sich mal den großen Verzweiflungsausbruch gewünscht, für die Verlierer der Geschichte findet die Regie wenig Empathie.
Wenn endlich die Discokugeln über den Zuschauerrängen funkeln, feiert „Saturday Night Fever“ auch in Ulm die große 1980er-Nostalgie. Natürlich machen die Songs der Bee Gees Laune, Nikolaus Henseler dirigiert sie mit theatralischem Effekt. Aber die gute Musik rettet das zeitgebundene, durchschnittliche Stück nicht, das eine ins Rentenalter gekommene Zuschauergeneration anspricht. Vielleicht wäre es den Versuch wert, sich der frustrierten jungen Männer von heute anzunehmen, die ihre Aggressionen leider nicht mehr in der Disco wegtanzen.
Musikalische Leitung: Nikolaus Henseler • Choreografie: Gaëtan Chailly und Sascha Luder • Ausstattung: Petra Mollérus • Licht: Marcus Denk • Sounddesign: Jens Schalle • Mit: Sascha Luder (Tony Manero), Maria Rosendorfsky (Stephanie Mangano), Giulia Valentina Jahn (Anette), Henning Mittwollen (Bobby C), Davide Venier (Joey), Calum Melville (Double J), Raphael Dörr (Frank Jr./Clubsänger), Gunther Nickles (Frank Manero Sr./Monty/Mr. Fosco), Anne Simmering (Flo Manero/Clubsängerin) u.a. • Tanztheatercompagnie des Theaters Ulm • Philharmonisches Orchester der Stadt Ulm
Aufmacherfoto: Jochen Klenk