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Sweeney Todd

Sündenfälle

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Theater für Niedersachsen
von
Stephen Sondheim (Musik und Gesangstexte)
Hugh Wheeler (Buch)
Regie
Sebastian Ellrich
Uraufführung
1979

„Sweeney Todd“, Kannibalismus und die Kirche

Kannibalismus erregt seit Jahrtausenden die Gemüter. Der Spanier Francisco de Goya malte „Saturn verschlingt eines seiner Kinder“ mit Gruselkitzel, in der griechischen Mythologie verspeist Kronos den Nachwuchs aus Angst vor Herrschaftsverlust, in Kriegszeiten gab es quer durch Europa reihenweise Gerüchte über dieses Nahrungsmittel. Manche taten es aus psychischer Deformation, andere folgten religiösen Riten. Auch Stephen Sondheim (Musik und Gesangstexte) wetzte im Gespann mit Buchautor Hugh Wheeler messerscharf die Klinge und schuf Sweeney Todd ein Denkmal im Musical-Format. Der dämonische Barbier aus der Londoner Fleet Street beförderte angeblich vor 200 Jahren unangenehme Menschen ins Jenseits, die seine skrupellose Komplizin Mrs. Lovett zu deliziösen Pasteten verarbeitete und damit gierige Kunden beglückte. Inzwischen nimmt das 1979 am Broadway uraufgeführte Stück auf deutschen Bühnen einen zunehmend wichtigen Platz ein.

„Sweeney Todd“ changiert zwischen makabrer Operette, Opernelementen und Musical. Um große Wirkung zu erzielen, braucht die hauseigene MusicalCompany des Theaters für Niedersachsen weder ein sinfonisches Orchester noch einen Chor oder ein opulentes Bühnenbild. Regisseur Sebastian Ellrich, zugleich Ausstatter, konzentriert den Horror mit viel Geschick und prickelndem Hitchcock-Effekt aufs Kammerformat. Farben dominieren, zunächst keusches Blau, später sündig-erotisches Rot mit Blut-Assoziation. Es geht um Schuld und Unschuld, Opfer und Täter. Daraus entsteht eine beklemmende Atmosphäre im abstrakten Raum: surreale Bilder, die Stimmungen verdichten, Emotionen aufwallen lassen und Triebe bis zur Obsession antreiben.

Ausdrücklich legt Ellrich den Fokus auf die Rolle der Kirche – und diese kommt nicht gut weg. Statt Oblaten gibt es natürlich Lovetts Pasteten. Eine stumm durch das gesamte Stück gehende Figur (Elisabeth Kösters) manifestiert den Bibelbezug. Zusätzlich ließ sich der Regisseur von Dürer und Caravaggio inspirieren, durch „Sweeney Todd“ fließt ein Zeitstrahl vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Das gibt der Produktion beachtliche Substanz, sie ist klug durchdacht und bis ins Kleinste gründlich gearbeitet. Eine ungewöhnliche Lesart, die das Ensemble mitträgt und mit perfekter Spielfreude umsetzt.

Daniel Wernecke als diabolischer Barbier Sweeney lehrt das Fürchten und friert den Atem ein. Dieser Typ ist monströs in seiner Rache und zugleich verletzt, weil er eben nicht nur als besessener Täter operiert, sondern auch Opfermale trägt. Die Teilung in Gut und Böse funktioniert hier nicht, jeder hat Dreck am Stecken und keineswegs Gesetz oder Moral gepachtet. Es kommt auf die Perspektive an. Dafür kreiert Ellrich eine Art Setzkasten mit Panoramablicken, außerdem ist ein riesiger Heiligenschein omnipräsent. Weder der egomanische Richter Turpin (Karsten Oliver Wöllm) noch der überdrehte Pirelli (Jürgen Brehm) oder Büttel Bamford (Samuel Jonathan Bertz) sind ohne Laster. Einzig Lucia Bernadas Cavallini als anmutig naive Johanna bildet auf dem toxischen Tableaux eine Ausnahme. Neben Sweeney Todd steht Mrs. Lovett im Vordergrund. Silke Dubilier ist die burschikos kaltschnäuzige Bäckerin, deren Pasteten prosperieren. Ihre merkantilen Gelüste sprengen jeden Zweifel am mörderischen Geschäft ins Nirvana – eine tolle Besetzung.

Sondheims variantenreiche, motivisch starke Songs veredelt Andreas Unsicker mit seiner Band zu wahren Kabinettstückchen. Der Sound pendelt zwischen rau und süßlich, zupackend und zart, Ballade und Glitter, nach vorn schmeißen sie unter anderem „Epiphanie“ und „Pirellis aqua capillare“. Choreograf Dominik Büttner bewegt die Akteure auf der ausgelegten Spur souverän und sorgt für Hingucker. Die deutsche Fassung von Roman Hinze und Wilfried Steiner ist passgenau. Ohne Abstriche gerät die Inszenierung zum exzellenten Wurf mit stringenter Ästhetik. Das Publikum reagiert entsprechend und feiert alle mit frenetischem Applaus: ein neuer Hit für Hildesheim.  


Musikalische Leitung: Andreas Unsicker • Regie und Ausstattung: Sebastian Ellrich • Choreografie: Dominik Büttner • Mitarbeit Bühne: Nadine Dannemann • Mitarbeit Kostüme: Patrizia Bitterich • Mit: Daniel Wernecke (Sweeney Todd), Silke Dubilier (Mrs. Lovett), Ömer Örgey (Anthony Hope), Karsten Oliver Wöllm (Richter Turpin), Lucía Bernadas Cavallini (Johanna), Samuel Jonathan Bertz (Büttel Bamford), Katharina Wollmann (Die Bettlerin), Jürgen Brehm (Pirelli/Mr. Fogg), Jack Lukas (Tobias), Elisabeth Köstner (Die Kirche/Der Tod)

Aufmacherfoto: Jochen Quast

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