Ein beherztes Ensemble singt tapfer gegen das etwas eindimensionale „Graf von Monte Christo“-Musical an
Was fasziniert Zeitgenossen an dieser melodramatisch abenteuernden Mantel-und-Degen-Geschichte aus dem 19. Jahrhundert? Ist es die spät keimende Menschlichkeit des Titelhelden oder die eher dezente Kapitalismuskritik? Alexandre Dumas bewegt jedenfalls bis heute mit seinem monströsen Episodenroman von 1845 die Gemüter. Da reihen sich markige Themen wie Machtgier, Rachegelüste, Angst und Hass, Liebe und Intrige, homöopathisch versetzt mit ein paar philosophischen Einsprengseln. Dutzendfach verfilmt gelangte die literarische Vorlage 2009 in St. Gallen als Musical auf die Bühne, von Vielschreiber Frank Wildhorn (u. a. Musik für „Jekyll & Hyde“, „The Scarlett Pimpernel“, „Dracula“) und Jack Murphy (Buch) auf ein effektheischendes Format zurechtgestutzt. Dem prominenten Darsteller Thomas Borchert widmete der Komponist sein Stück. Er spielte auch die Hauptrolle in der Uraufführung und übernahm den Part nun erneut am Theater Lüneburg, wo „Der Graf von Monte Christo“ auf begeisterte Resonanz stieß.
Ein Riesenpendel schwingt zu bleischweren Orchesterklängen. Aus dem Off intoniert der Chor düstere Töne, die an ein Requiem erinnern. Ein Mann sitzt im Kerker, eine Frau steht hinter ihm. Sie verkörpert Sehnsucht und irrlichternde Vergangenheit zugleich. Dann folgt die Rückblende. Der Häftling ist Edmond Dantès, ein designierter Kapitän kurz vor der Eheschließung mit der attraktiven Mercédès. Die steile Karriere und eine begehrenswerte Frau lösen Neidgefühle bei seinen vermeintlichen Freunden aus. Die schmieden einen Komplott und bringen den Aufsteiger unrechtmäßig auf eine Festungsinsel. Dort trifft er auf Abbé Faria, der ihm zahlreiche Erkenntnisse beschert und einen Fluchtplan. Der gelingt. Auf dem Weg in die Freiheit reisst er einen astronomisch wertvollen Schatz an sich, beeindruckt tollkühne Piratinnen und kehrt als Aristokrat nach Marseille zurück. Dort treibt der Graf von Monte Christo seine einstigen Widersacher gallig in den Ruin und findet auch Mercédès wieder, die längst, aber höchst unglücklich, mit Fernand Mondego verheiratet ist. Sohn Albert und seine Verlobte Valentine mit ihrer aufrichtigen Zuneigung besänftigen schließlich den wütenden Grafen, am Ende winkt neues Glück.
Reichlich Text für zweieinhalb Stunden, den Jack Murphy auf eine rasant geschnittene Szenenfolge eindampfte. Da bleibt wenig Platz für Entwicklungen, Konturen und Tiefenschärfe. Das übernimmt die Musik von Frank Wildhorn. Der versteht sich prächtig auf emotional aufgeladene, hoch fahrende Balladen und Popsongs. Sie heizen die brodelnde Stimmung entsprechend an. Gaudens Bieri und die Lüneburger Symphoniker erweisen sich als kompetente, zuverlässige Träger dieser gefühlsintensiven Momente und gestalten daraus ein wahres Kraftzentrum, gipfelnd in „Niemals allein“, „Könige“ oder „Hölle auf Erden“. Regisseur Wolfgang Berthold arrangiert die rasch wechselnden Einstellungen handwerklich geschickt, kann aber das Schablonenhafte und Holzschnittartige nicht kaschieren. In der Konsequenz wirkt manches aufgesetzt und farblos, etwa der Auftritt sexbesessener Piratinnen, die mit ihrem aufreizendem Outfit offenbar einem Bordell entflohen sind. Auch die Choreografie von Olaf Schmidt kommt über Belanglosigkeit kaum hinaus, lediglich im Auftritt der seefahrenden Matronen gelingt ihm ein Hingucker.
Die fantasievollen, opulenten Kostüme von Ausstatterin Cornelia Brunn variieren zwischen historisierenden Elementen und abstrakt Zeitlosem. Ihr entrümpeltes, stark beeindruckendes Bühnenbild besticht durch ein immens vergrößertes Bullauge als Platz für Videoeinspielungen mit Wolkenformationen und Meeresassoziationen. In der gelgentlich holpernden Übersetzung von Kevin Schroeder schafft sich Thomas Borchert mit Abstand den breitesten Aktionsradius. Er macht die Wandlungen vom Seefahrer zum reumütigen Grafen glaubhaft, agiert wunderbar überzeugend auf olympischem Niveau. Navina Heyne geht mit dem blässlichen Profil ihrer Rolle souverän um und lotet alles aus, was Mercédès an Regungen zulässt. Das übrige Ensemble spielt und singt tapfer und beherzt gegen die Eindimensionalität ihrer Figuren an: Franziska Ringe als tollkühe Luisa Vampa, der raffinierte Abbé von Sascha Littig, Gerd Achilles als berechnender Mondego, Andrea Marchetti ist ein treu ergebener Jacopo, Pia Naegeli und Anton Frederik von Mansberg geben das brav verliebte Paar Valentine und Albert.
Zwar erlebte der „Graf von Monte Christo“ einige Erfolge in Südkorea, Russland, Japan, Litauen und Deutschland, an den Broadway gelangte der vermusicalisierte und massiv geraffte Roman-Herkules bisher nicht. Das dürfte angesichts der enormen Konkurrenz auch kaum gelingen. In Lüneburg gab es Standing Ovations.
Musikalische Leitung: Gaudens Bieri • Regie: Wolfgang Berthold • Ausstattung: Cornelia Brunn • Choreografie: Olaf Schmidt • Fechtchoreografie: Axel Hambach • Mit: Thomas Borchert (Edmond Dantès), Navina Heyne (Mercédès), Sascha Littig (Abbé Faria), Gerd Achilles (Fernand Mondego), Steffen Neutze (Gérard von Villefort), Oliver Hennes (Baron Danglars), Franziska Ringe (Luisa Vampa), Andrea Marchetti (Jacopo), Anton Frederik von Mansberg (Albert von Morcerf), Pia Naegeli (Valentine), Eric Keller (Morrel), Falk Steingräber (Kommissar) • Opern- und Extrachor des Theaters Lüneburg • Lüneburger Symphoniker
Aufmacherfoto: t&w/Andreas Tamme