„Les Misérables“ geht stürmisch und präzise inszeniert auf die Barrikaden. Jetzt ist die Produktion am Münchner Gärtnerplatztheater zu sehen
Die Schweizer Erstaufführung des Musicalhits aus der Feder von Claude-Michel Schönberg und Alain Boublil in St. Gallen liegt bereits 16 Jahre zurück. Nach etlichen Weltpremieren, die das Theater unter der Direktion des musicalbegeisterten Werner Signer bis zu dessen Pensionierung 2023 auf die Bühne gebracht hat, war es also Zeit für eine Neuproduktion von „Les Misérables“. Zudem lag es nahe, mit der Regie einen Könner zu betrauen, der gute Verbindungen zum Haus hat: Josef E. Köpplinger, Intendant des Münchner Gärtnerplatztheaters, war zwischen 2004 und 2007 Schauspieldirektor in der Ostschweiz. Er kennt die technischen Möglichkeiten ebenso gut wie die Begeisterungsfähigkeit der Crew und des Publikums, das nicht nur aus der näheren Region für Musicals nach St. Gallen kommt.
Rund drei Stunden Spieldauer vergehen in Köpplingers Inszenierung wie im Flug, was sich nicht nur der eingängigen, mitreißenden Partitur und der bis in die kleinsten Nebenrollen überzeugenden, auch schauspielerisch differenzierten Besetzung verdankt. „Jeder Fanatismus endet in Fatalismus“, diesen Leitgedanken stellt die Regie dem Drama voran – alles weitere ist opulentes Spektakel, das sich von selbst versteht. Allzu viel interpretatorischen Eigensinn erlauben Erfolgsstücke wie „Les Misérables“ ohnehin nicht; die Auflagen für Neuproduktionen sind streng. Köpplinger kann im Leitungsteam auf bewährte Kräfte vertrauen: auf Choreografin und Co-Regisseurin Ricarda Regina Ludigkeit, Bühnenbildner Rainer Sinell und Lichtdesigner Andreas Enzler, der die präzise Personenführung bestens in Szene setzt.
Im Orchestergraben steht einmal mehr Koen Schoots, der schon die Schweizer Erstaufführung geleitet hat. Er vereint Erfahrung mit unermüdlicher Entdeckungslust und entfacht beim Sinfonieorchester St.Gallen hörbare Leidenschaft für dieses so opernhaft-opulente, temporeiche Musical. Schoots gönnt den Sänger-Darstellern (herausragend unter ihnen Barbara Obermeier als Éponine, Armin Kahl als Valjean und Thomas Hohler als Marius) auch große Bögen und unterstützt die stimmlich differenzierte Charakterzeichnung.
Rainer Sinells Bühnenbild kommt mit wenigen, raffiniert eingesetzten Elementen aus. Er nutzt für reibungslose Szenenwechsel die Drehbühne und hängende Kulissen und lässt die Figuren auch in einsamen Momenten nie verloren wirken. Umso lustvoller greift Kostümbildnerin Uta Meenen in die historische Kleiderkiste: Sie hat die Produktion aufs Üppigste ausgestattet, hat die jungen Aufständischen ebenso realistisch ausstaffiert wie das Lumpenvolk auf der Straße und in der Spelunke der Thénardiers (herrlich komödiantisch verkörpert von Dagmar Hellberg und Jogi Kaiser). So sind die Massen- und die Chorszenen (Einstudierung: Franz Obermair) auch visuell ein Genuss. Einzig die Nebelmaschine tut einen Abend lang zu viel des Guten: Diesen undifferenziert eingesetzten dramatischen Geschmacksverstärker hätte die Produktion nicht nötig gehabt.
Musikalische Leitung: Koen Schoots • Choreografie und Co-Regie: Ricarda Regina Ludigkeit • Bühne: Rainer Sinell • Kostüme: Uta Meenen • Licht: Andreas Enzler • Ton: Marko Siegmeier und Nicolai Gütter-Graf • Chor: Franz Obermair; Mit: Armin Kahl (Jean Valjean), Filippo Strocchi (Javert), Wietske van Tongeren (Fantine), Jogi Kaiser (Thénardier), Dagmar Hellberg (Madame Thénardier), Kristine Emde (Cosette), Barbara Obermeier (Éponine), Thomas Hohler (Marius), Merlin Fargel (Enjolras), Kio Bruderer (Gavroche), Sofia Cecchini (Kleine Cosette), Niva Müller (Kleine Éponine) u.a. • Chor des Theaters St.Gallen • Sinfonieorchester St.Gallen
Aufmacherfoto: Ludwig Olah