Aids, Aktivismus, Gentrifizierung: ein Blick von heute auf Jonathan Larsons Rock-Musical „Rent“
So rau der Wind auch weht in der Alphabet City des East Village im Manhattan der 1990er Jahre, so gnadenlos hier abgebrannte Songwriter und Independent-Filmemacher, Clubtänzerinnen und HIV-Positive ums Überleben kämpfen: Das heruntergekommene Apartment, dessen Miete Mark und Roger nicht mehr zahlen können, wirkt auf der Bühne am Theater St.Gallen gleichwohl ziemlich pittoresk. Nackte Rohre, bunte Kabel, ein graues Schnurtelefon, an den Wänden Plakate, darunter auch ein nostalgisches von einer „La Bohème“-Aufführung – Bühnenbildner Paul Wills hat das Kult-Musical „Rent“ mit Liebe zum Detail ausgestattet und in Claudio Pohle, der für die Kostüme verantwortlich zeichnet, einen kongenialen Partner gefunden. Auge und Ohr bekommen knapp drei Stunden lang gleichermaßen viel geboten.
Dabei geht es in „Rent“ wie in der großen, omnipräsenten Vorlage von Giacomo Puccini in erster Linie um die bittere Armut von Künstlerfreunden, das Prekariat 1896 und 1996 ebenso wie heute: Während und nach der Pandemie hat es sich offen gezeigt. In Jonathan Larsons Rock-Version der Künstleroper um Marcello und Rodolfo, Musetta, Mimì, Colline und Schaunard heißt die Seuche Aids statt Schwindsucht. Und selbst wenn die Überlebenschancen seit 1996 enorm gestiegen sind: Nach Covid-19 steckt die im Stück stets mitschwingende Angst und die Trauer um verlorene Freunde nicht nur gewissen „Risikogruppen“ in den Knochen – alle können sie unterdessen nachempfinden. Der Zeitpunkt, „Rent“ auf den Spielplan zu setzen, erscheint also goldrichtig.
Zumal die Musik, eine Mischung aus Pop, Rock und Rhythm and Blues, an Energie und Frische nichts verloren hat und in St. Gallen hochemotional und authentisch auf die Bühne kommt. Wären da nicht die deutschen Texte (Fassung: Wolfgang Adenberg), die an die Qualität des Originals, etwa im Song „Seasons of Love“, leider nicht heranreichen. Es wirkt ein wenig bieder und gesucht, wenn sich „spooky“ auf „Schnucki“ reimt; doch grundsätzlich erleichtert die Übersetzung das Verständnis. Statt permanent auf Übertitel zu starren, kann man sich auf die Show konzentrieren, und diese überzeugt wesentlich mehr als die Songtexte.
Inszeniert hat der Südafrikaner Matthew Wild. Dass er als Regisseur viel Opernerfahrung hat (und Puccinis „La Bohème“ selbstverständlich im Portfolio), kommt der Produktion zugute. Sie ist stringent erzählt, verliert auch in den leisen, intimen Szenen nicht an Tempo und gibt den Darstellerinnen und Darstellern viel Raum zur Charakterzeichnung. Stimmlich herausragend agieren Naomi Simmonds als Mimi, soulig zwischen Angriffslust, Emotionalität und Verletzlichkeit changierend, Kerry Jean (Joanne) bis in die höchsten, glasklaren und präzisen Töne, aber auch Jeannine Michele Wacker, die als Performerin und Aktivistin Maureen in „Flieg mit mir zum Mond“ alles gibt. Claudio Pohle hat für diesen Demo-Auftritt gegen die Gentrifizierung des Stadtviertels ein heißes Kuh-Kostüm kreiert, samt Halskrause aus Gummi-Eutern: zum Abheben und herrlich schräg.
Die Bühne bietet vielfältige Möglichkeiten zu schnellen Szenenwechseln zwischen Loft, Straße und Life Café, wo die Bohemiens Party machen. Sie teilt sich im Moment der Entfremdung zwischen Mimi und Roger, gibt den Blick frei auf den an Aids sterbenden Angel, den Gonzalo Campos López facettenreich und anrührend als zarte, lebensfrohe Drag Queen auf die Bühne bringt. Videosequenzen, die Mark (Thomas Hohler) als Dokumentarfilmer gedreht hat, zoomen nah heran, statt bunt schwarzweiß, ein wenig flackernd: Nicht zuletzt das macht „Rent“ zur gleichzeitig nostalgischen und zeitgenössischen Interpretation eines aktuell gebliebenen Stoffes.
Musikalische Leitung: Christoph Bönecker • Choreografie: Louisa Talbot • Bühne: Paul Wills • Kostüme: Claudio Pohle • Licht: Tim Mitchell • Video: Reto Müller • Ton: Nicolai Gütter-Graf und Peter Szabo • Mit: Naomi Simmonds (Mimi Marquez), Dominik Hees (Roger Davis), Thomas Hohler (Mark Cohen), Jeannine Michele Wacker (Maureen Johnson), Gonzalo Campos López (Angel Dumott Schunard), Daniel Dodd-Ellis (Tom Collins), Kerry Jean (Joanne Jefferson), Vikrant Subramanian (Benjamin „Benny“ Coffin III) u.a. • Rent Band
Aufmacherfoto: Edyta Dufaj