
Tecklenburg übertrifft sich mit „Titanic“ selbst
Tränen überall, auf der Bühne und bei den Zuschauern – vor Rührung, Trauner, Angst, Wut und vor Begeisterung. Bis alle Passagiere der drei Klassen an Bord sind und das Schiff zu seiner Jungfernfahrt aufbricht, vergehen 20 Minuten. Die hier schon – bei aller Vorfreude – bedrohlich klingende Musik (Musikalische Leitung: Juheon Han) von Maury Yeston tönt voll und differenziert im ganzen Rund. Das rund 60-köpfige Ensemble liefert einen fulminanten Chorklang, die Kostüme (Fabienne Ank) zeigen klar die Klassenunterschiede. Und dann dieses Schiff: Jens Janke zaubert die Illusion, dass es auf drei Etagen über die gesamte Bühnenbreite geht. Links auf dem alten Brunnen ist der erste Schornstein, zwei auf der Hauptbühne, der vierte schließlich rechts über dem hohen Tor. So entsteht optisch sofort eine Schieflage. Und auch das Ende nimmt Regisseur Ulrich Wiggers bereits vor Beginn vorweg. Wie auf dem eiskalten Meer nach der Katastrophe liegen überall Ausstattungs-Gegenstände herum. Dann der Anfang, und schließlich stehen alle Beteiligten überall auf der Bühne, auf den vielen Treppen, auf allen Ebenen und singen das „Lebewohl bis zur Wiederkehr“ – nicht ahnend, dass die Verkettung von so vielen ungünstigen Entscheidungen schließlich das unsinkbare Weltwunder zum Untergang zwingen. Der perfekte Theatermoment.
Nebenbei hat Wiggers alle Figuren eingeführt und in nur wenigen Momenten dafür gesorgt, dass man Sympathien für jeden einzelnen hegt. Allein das ist hohe Kunst – von der Regie und von den Darstellerinnen und Darstellern selbst. Übrigens sind so oft alle auf der Bühne, und immer wird überall gespielt. Dass jemand einfach wartet, bis er dran ist, wird nicht passieren. Eine wahre Ensemble-Leistung.
Einer, im Gegensatz zu allen anderen, ist dann doch ein riesiger Unsympath: J. Bruce Ismay, bösartig besessen gespielt von Felix Martin, will, dass sein Schiff in die Geschichte eingeht, weil es nicht nur das Größte, sondern auch das Schnellste ist. So zwingt er Kapitän Edward John Smith, zu früh die Geschwindigkeit auf 22 Knoten zu erhöhen. Benjamin Eberling, der die Crew anführt, arbeitet wunderbar seine Zweifel heraus und im Folgenden dann, wie er mehr und mehr einknickt. Eigentlich wollte er schon in Rente sein und freute sich so auf die Zeit an Land …
Die Besetzung ist bis ins Kleinste gut ausgewählt, und vor allem das Zusammenspiel gelingt wunderbar: Die drei Kates, Laura Araiza Inasaridse, Hannah Miele und Gioia Heid, sehnen sich nach einem glücklichen Leben in Amerika. Die Szene, wenn Funker Harold Bride (Tobias Bieri) dem Heizer Barrett (Til Ormeloh) bei der Formulierung seines Heiratsantrages hilft. Und schließlich der ergreifende Moment, wenn das seit über 40 Jahren verheiratete Ehepaar Ida und Isidor Straus (Masha Karell und Anton Rattinger) entscheidet, gemeinsam zu sterben. Stets spürt man diesen Zusammenhalt, sei es als Darsteller auf der Bühne oder in der Rolle bei wachsendem Bewusstsein, dass es kaum Überlebende geben wird. Wie immer unauffällig, doch stets präsent dabei ist Chefsteward Henry Etches. Gerben Grimmius’ Spiel berührt – reicht er beispielsweise dem trauernden und zugleich glücklichen alten Ehepaar noch den besten Champagner im Untergang, wäre es doch eine Schande, diesen nicht zu trinken.
Schließlich steht nur noch ein Mann auf der Bühne: Thomas Andrews, der Schiffskonstrukteur, dargestellt von Alexander di Capri. Er erkennt, dass es nur kleinste bauliche Veränderungen gebraucht hätte, um die Titanic wirklich unsinkbar zu machen. Und dann passiert es: Dank überdimensionaler Projektionen (Bonko Karadjov) und unterstützenden lauten Geräuschen bricht das Schiff entzwei und entschwindet auf den Meeresgrund … Zum Finale, wenn die Überlebenden hoffen, irgendwann wieder mit ihren Liebsten vereint zu sein, kommen alle zurück auf die Bühne. Das Stück endet still und voller Tränen.
Musikalische Leitung: Juheon Han • Choreografie: Francesc Abós • Bühne: Jens Janke • Kostüme: Fabienne Ank • Digital Artist: Bonko Karadjov • Mit: Benjamin Eberling (Kapitän Edward John Smith), Alexander di Capri (Thomas Andrews), Felix Martin (J. Bruce Ismay), Til Ormeloh (Heizer Frederic Barrett/Benjamin Guggenheim), Tobias Bieri (Harold Bride/J. H. Rogers (Jay Yates)), Anton Rattinger (Isidor Straus), Masha Karell (Ida Straus), Gerben Grimmius (Henry Etches/Wallace Hartley), Nicolai Schwab (Fredrick Fleet), Michael B. Sattler (Jim Farrell), Bettina Meske (Alice Beane), Patrick L. Schmitz (Edgar Beane), Laura Araiza Inasaridse (Kate McGowan), Hannah Miele (Kate Murphy), Gioia Heid (Kate Mullins), Hector Mitchell-Turner (Charles Clarke), Elena Franke (Caroline Neville), Jan Altenbockum (Charles Lightoller, 2. Offizier), Mathias Meffert (William Murdoch, 1. Offizier), Christian Rosprim (Herbert Pitman, 3. Offizier), Niklas Roling (Robert Hichens, Rudergänger), Tim Grimme (Joseph Boxhall, 4. Offizier), Lorenzo Eccher (Andrew Latimer), Jan Altenbockum (John J. Astor), Oriol Tula (George Widener), Michael Berres (John Thayer), Elena Franke (Caroline Neville), Caroline Hat (Madeleine Astor), Bernadette Fröhlich (Marion Thayer), Giulia Fabris (Mme Aubert), Nadine Baas (Eleanor Widener), Esther-Larissa Lach (Charlotte Cardoza) • Chor und Orchester der Freilichtspiele Tecklenburg
Aufmacherfoto: Daniel Lagerpusch