
Pina Bauschs kongeniale Weill-Apotheose mit Ute Lemper
Die Wiederaufnahme dieser zweiteiligen Produktion von Kurt Weills „Die sieben Todsünden“ mit der Weill-Kompilation „Fürchtet euch nicht“ ist einfach wunderbar. Pina Bausch, von der in Wuppertal alle ohne Nachnamen sprechen, zeigte bei der Uraufführung von „Die sieben Todsünden“ im Juni 1976 in Sachen Emanzipation, affirmative Queerness und Systemkritik mindestens so viel Engagement wie die Kulturszene heute. Cancel Culture aber gehörte nicht zu ihrem Vokabular.
In kaum einer Wiederaufnahme von Opern- und Ballettinszenierungen aus dem 20. Jahrhundert sind so viele Mitwirkende der ersten Generationen dabei wie beim noch immer für Gastspiele weltweit gefragten Tanztheater Wuppertal – lange vor den Gegenwartsinitiativen war Pina Bausch authentisch gegen Age Shaming und Age Blaming. Noch immer erkennt man in der Kompanie vertraute Gesichter von Aufführungsfotos aus den 1990ern und aus Wim Wenders’ Filmdokumentation „Pina“ (2011). Das auf der Hinterbühne sitzende Sinfonieorchester Wuppertal kennt seinen Weill und die Arrangements aus dem Effeff. Jan Michael Horstmann hat mit fast schon telepathischer Energie den synergetischen Puls, er wirkt am Pult wie ein Teil der Choreografie.
Die in diese Produktion kongenial eingebundene Ute Lemper findet hier zu ihren Musical-Anfängen zurück: Schon mit Beginn von „Die sieben Todsünden“ – da richtet sie einen Spot auf „ihre Schwester“ Anna II – ist sie ein Blickfang. Lemper und Stephanie Troyak ziehen unsichtbare Fäden zwischen sich, Troyak als die sich im kapitalistischen Wertschöpfungs- und Verschleißprozess zerstörende Ware Frau und Lemper als deren manipulatives Medium. Ute Lemper zeigt in diesem Totaltheater-Biotop ganz große Klasse, gerade weil sie hier keine One-Woman-Show betreiben und keine solitäre Diva-Exklusivität vor sich hertragen muss. Mit der Tanzkompanie bildet Lemper je nach Anforderungen eine intensive Einheit oder einen dramatisch sinnfälligen Konterpart zu ihr. Bertolt Brecht und Kurt Weill ereignen sich hier statt im Schnodder-Look mit Anzug, weißem Kragen und Abendkleid, was nach den wilden 1960ern ein skandalisierender Kunstgriff war.
Die Alle-Alter-Tanzcrew ist wie damals eine aufeinander eingeschworene Masse kraftvoller Individuen, das Familienquartett aus Sergio Augusto, Mark Bowman-Hester, Sebastian Campione und Simon Stricker agiert im Fast-Ganzdunkel mit vokaler Stärke. Es ist faszinierend, wie immer wieder Schweres das Leichte penetriert, wie Lempers scharfe Konsonanten im Gleichklang von Erscheinung und Bewegungen die Bitternis und Brutalität des Geschehens verdichten.
Perfide Dialektik einer Wissenden: „Fürchtet euch nicht“ ist keineswegs eine heilsgeschichtliche Trostpostille Pinas ins seit der Uraufführung noch untröstlichere Turbokapitalismus-Jammertal. Tanzdramatische Dialektik herrscht also auch da. Die musikalische Seite präsentiert Weills Evergreens mit rauchig bis samten in alle Glieder fahrender Opulenz. „Fürchtet euch nicht“ singt der adrette Schokoladenonkel zu seinen fast noch kindlichen Partnerinnen, deren Gesichter nach den angedeutet finsteren Kurzbegegnungen versteinern. Dieses „Fürchtet euch nicht“ gilt bei Pina nur für die Blütejahre der ersten Lebenshälfte, welche durch die aus Tradition emanzipierte Besetzungspolitik des Tanztheaters Wuppertal auf die ersten beiden Lebensdrittel verlängert wird. In diesem Sinne gerät die von New York bis Moskau umjubelte Brecht/Weill-Kompilation des Tanztheaters zu einem alterslosen Beitrag für hedonistische Emanzipations-Utopie. Nur war Pina nicht so naiv zu glauben, dass sich durch Genderpluralismus systemische Benutzungsstrukturen ändern. Das gilt auch für Steffen Laube als distinguiertem Grapscher und die sich mit Lust als dekadentes Luder produzierende Melissa Madden Gray. Ihr Goldblond sticht heraus und bringt als sehr heutige Farbe ein binäres „I Am What I Am“ ins höchst aktuelle Spiel aus dem Jahr 1976. Passt doch!
Musikalische Leitung: Jan Michael Horstmann • Regie und Choreografie: Pina Bausch • Probenleitung: Josephine Ann Endicott und Julie Shanahan • Ausstattung: Rolf Borzik • Mitarbeit: Hans Pop und Marion Cito • Mit: Ute Lemper (Anna), Stephanie Troyak (Anna II), Sergio Augusto, Mark Bowman-Hester, Sebastian Campione, Simon Stricker (Die Familie), Melissa Madden Gray, Steffen Laube, Erika Skrotzki • Tanztheater Wuppertal Pina Bausch und Gäste • Maki Hayashida (Klavier), Jan Kazda (Gitarre) • Sinfonieorchester Wuppertal
Aufmacherfoto: Sylvain Guillot