„Tootsie“ beschwört die 80er Jahre herauf
„Wer bist Du?“ – vom ersten Takt an steht diese Frage über dem Musical „Tootsie“, das in Osnabrück eine umjubelte Premiere feiert. Robert Horn (Buch) und David Yazbek (Musik) schufen aus dem Kultfilm gleichen Titels mit Dustin Hoffman ein dreistündiges, gut funktionierendes Musical. In der kongenialen Übersetzung von Roman Hinze geht das Stück jetzt im Theater am Domhof über die Bühne, und zwar in einer respektablen Qualität.
Der erfolglose Schauspieler Michael Dorsey bewirbt sich in prekärer Lage bei einer „Romeo und Julia“-Musicalproduktion um die Rolle der Amme. Mit blonder Perücke, Stöckelschuhen und weiteren Attributen verwandelt er sich in eine nicht zu übersehende und auf seine – pardon, ihre – Art attraktive weibliche Persönlichkeit mit Namen Dorothy Michaels. Durch einen höchst selbstbewussten Auftritt beim Casting bekommt er/sie die Rolle. Und damit beginnen die Turbulenzen …
Mit Jannik Harneit in der Hauptrolle macht das Theater einen Glücksgriff. Der erfolgreiche Musical-Darsteller hat mit seinen Songs große Momente. Die Frauenrolle erfüllt er ohne jede Dragqueen-Allüren mit so viel Glaubwürdigkeit, dass man versteht, warum sich nicht nur der Darsteller von Bruder Lorenzo, sondern auch Julia selbst in sie/ihn verliebt. Damit ist die Konfusion perfekt. Denn der Mann in Dorothy lässt diese scheinbare Frau-Frau-Liebe zu. Das Stück ist „die Geschichte eines Mannes, der zu einem besseren Mann wird, weil er eine Frau war“, wie Dustin Hoffman sagte. Da ist erneut die Frage: „Wer bist Du?“
Verzweifelt fragt das auch der Regisseur des Stücks im Stück, Ron Carlisle. Denn die rebellisch auftretende Amme treibt ihn mit ihren Fragen und Gegenvorschlägen schier in den Wahnsinn. Mit ständigem Comic-Überdruck tobt Mark Hamman in dieser Rolle über die Bühne. Julia Lißel macht die Darstellung der immer verwirrter werdenden Julia-Darstellerin zu einer anrührenden Persönlichkeitsstudie zwischen Sehnen und Suchen. Wunderschön singend, perfekt tanzend und in den Dialogen sprachlich lebendig, erweist auch sie sich als glückliche Besetzung.
Das Gleiche gilt für Daniel Preis, der als mental etwas unterbelichteter Lorenzo-Darsteller Max Van Horn mit schwäbischer Sprachfärbung, Chargen-Aktion und Macho-Gehabe komödiantische Kabinettstücke einbringt und dabei seine sängerische Qualität immer markant aufblitzen lässt. Herrlich lässig-lapidar kommentiert Jan Friedrich Eggers als glückloser Schriftsteller Jeff Slater die chaotischen Aktionen seines WG-Genossen Michael Dorsey. Aus Michaels Freundin mit Namen Sandy Lester, einer Bühnendarstellerin mit mäßigem Erfolg, wird durch Susanna Edelmann, ebenfalls schön singend, eine ständig wütend frustrierte Frau mit Heulsusen-Tendenz: amüsant und temporeich.
Regisseur Ansgar Weigner stehen neben dem Hauptrollen-Quintett für seine mit leichter Hand und präzisem Timing geformte Inszenierung der Opernchor des Hauses und Musical-Studierende des Instituts für Musik zur Verfügung. Die geben nach anfänglich kleinen tänzerischen Koordinationsproblemen dem Stück das nötige choreografische Temperament und eine beeindruckende chorische Power.
Das mobile, kreative Bühnenbild (Darko Petrovic, auch Kostüme) ermöglicht dem tollen Tempo der Inszenierung folgend schnelle Wechsel, Ingo Jooß’ künstlerisch gesetztes Licht ergänzt die Qualität. Eine Sonderklasse ist der Orchester-Sound. Unter der engagierten Leitung von An-Hoon Song sitzt alles auf dem Punkt und man freut sich über rasante Bläser, fetziges Schlagzeug und, wo nötig, weichen Streicher- und Holzbläserklang: ein perfektes Revival der 80er Jahre. Fazit: unbedingt sehens- und hörenswert – und viel zu lachen gibt es auch.
Musikalische Leitung: An-Hoon Song • Choreografie: Andrea Danae Kingston • Ausstattung: Darko Petrovic • Licht: Ingo Jooß • Chor: Sierd Quarré • Mit: Jannik Harneit (Michael Dorsey/Dorothy Michaels), Julia Lißel (Julie Nichols), Susanna Edelmann (Sandy Lester), Jan Friedrich Eggers (Jeff Slater), Daniel Preis (Max Van Horn), Mark Hamman (Ron Carlisle), Olga Privalova (Rita Marshall), Rinus Render (Stan Fields), Strato Stavridis (Stuart), Djamila Al-Slaiman (Suzie), Jonas Blahowetz (Carl), Philipp Faustmann (Stylist), Francesca Mai (Vorsängerin 1), Clara Schönberner (Vorsängerin 2) u.a. • Opernchor des Theaters Osnabrück • Osnabrücker Symphonieorchester/Band
Aufmacherfoto: Stephan Glagla