
„Jekyll & Hyde“ begeistert schaurig-schön
Auch in dieser Spielzeit führt Iris Limbarth die lang gewachsene Tradition des Jungen Staatsmusicals in Wiesbaden weiter. Seit 35 Jahren finden Theaterbegeisterte zwischen 15 und 25 Jahren hier den Einstieg in die Theaterwelt, der viele an Schauspiel- und Musicalhochschulen bis ins Berufsleben führt. Mit Frank Wildhorns „Jekyll & Hyde“ hält ein weiterer Musicalklassiker Einzug in das Repertoire des jungen Ensembles, welches das Wiesbadener Publikum rund ums Jahr mit verschiedenen Musicalproduktionen auf bis zu drei Spielstätten versorgt. Schaurig-schön wird es dabei am umjubelten Premierenabend im Kleinen Haus des Hessischen Staatstheaters.
„Wahnsinn ist das schlimmste aller Gefängnisse“: In diesem findet sich Dr. Henry Jekyll wieder, als sein Versuch, das Gute vom Bösen im Menschen zu trennen, in der teuflischen Inkarnation des Edward Hyde endet. Der ergreift zunehmend Besitz von seinem Schöpfer, welcher sich zwischen seiner Verlobten Lisa und der Prostituierten Lucy genauso hin und hergerissen fühlt wie zwischen seinen beiden Persönlichkeiten. Nach der langen Introduktion mutiert mit der Verwandlung Jekylls auch die Energie des Abends hin zu einem packenden Thriller, wobei das Publikum bereits nach dem ersten Song in Jubelstürme verfällt.
Die Unterstützung aller Gewerke des Staatstheaters, von Schneiderei, Bühnenbild bis zu Ton und Licht, spiegelt sich in der handwerklichen Hochwertigkeit des Abends wider. Dabei wurde kein Aufwand gescheut und eine intelligente Inszenierung konstruiert, die sich für Details nicht zu schade ist und zugleich mit ihrer Simplizität besticht, die schnelle Verwandlungen vom Labor zum Schlafgemach ermöglicht und von dynamischen Tanznummern bis zu dramatischen Balladen reicht. Die ganze Tiefe der Bühne wird genutzt, während starke Lichtakzente jeweils das Gute oder Böse in Henry Jekyll beleuchten. Besonders die finale Konfrontation mit seinem Alter Ego Hyde ist gekonnt illuminiert und in Szene gesetzt.
In der Ausstattung macht vor allem die Historizität der hochwertigen Kostüme etwas her, wie beispielsweise das smaragd-samtige Kleid der Lady Beaconsfield (stilvoll: Viktoria Reese) oder auch das aufreizende Gewand der Nachtclub-Ältesten Nellie (reizend: Katharina Hoffmann). Als Erzähler und Jekylls engster Freund John führt Dwayne Besier zudem souverän und charismatisch durch den Abend.
Anastasia Bechtolds Lisa vibriert zwischen Broadway und Oper wie ein kraftvolles Vögelchen. Im Nachtclub Red Rats lädt Denia Gilberg als Lucy mit der Nummer „Schafft die Männer ran“ zu einem kleinen Abstecher nach Köln ein. In Moulin-Rouge-Manier schwingt das Ensemble das Tanzbein, Gilbergs Broadway-Belt und feines Spiel sind klar und kraftvollen in allen Aspekten. Allgemein herrscht im Stück fast ein Tick zu viel Sexappeal, hin und wieder wird Lucy von Hyde ordentlich malträtiert – die Altersfreigabe ab 14 ist hier fast zu niedrig.
Tim Speckhardt, langjähriges Mitglied des Ensembles, trägt den Abend als Jekyll wie als Hyde. Glaubwürdig und mit stimmlicher Präzision bewegt er sich zwischen dem liebevollen Forscher und dem ungezügelten Monster, das das gesamte Kabinett des Krankenhausvorstands kaltblütig ermordet. Das Liebesdreieck um Lisa und Lucy rückt bei der existenziellen Frage rund um Gut und Böse fast in den Hintergrund; dennoch erschüttert es bis ins Mark, wenn Lucy hinterrücks von Hyde erdolcht wird und Lisa zusehen muss, wie ihr Verlobter am Tag der Hochzeit zum Monster mutiert.
Im Graben spielt das Orchester unter Frank Bangert Wildhorns melodiöse Musik mit vollem Sound und reißt das Publikum in bekannten Hits wie „Dies ist die Stunde“ mit. Die Choreografien von Iris Limbarth sind etwas in der Stilistik der 90er Jahre verankert, technisch jedoch präzise ausgeführt.
Mit einer simplen wie eindrucksvollen, aber vor allem emotionsgeladenen Darbietung steht das engagierte Ensemble den „Profis“ in nichts nach. Theater-Jugendclubs Deutschlands: nachmachen!
Musikalische Leitung: Frank Bangert • Regie und Choreografie: Iris Limbarth • Bühne: Britta Lammers • Kostüme: Heike Korn • Videodesign: Benjamin Geipel • Licht: Oliver Porst • Mit: Tim Speckhardt (Dr. Jekyll/Mr. Hyde), Denia Gilberg (Lucy Harris), Anastasia Bechtold (Lisa Carew), Katharina Hoffmann (Nellie), Dwayne Besier (Gabriel John Utterson), Felipe Salazar (Sir Danvers Carew), Jakob Höhler (Simon Stride), Viktoria Reese (Lady Beaconsfield), Lukas Werner Müller (Bischof von Basingstoke/Pfarrer), Nis Hansen (Lord Glossop/Vater Jekylls), Linus Weinbrenner (Spider), Sarah Zimmermann (Lord Savage), Matthew Laszlo von Pokorny (Sir Archibald Proops), Lars Hofmann (Poole, Butler/Biset, Apotheker) u.a.
Aufmacherfoto: Peter Emig